Herausforderung

Bemerkungen zur Arbeit noosomatischer Forschung

Das wesentliche Problem in der noosomatischen Forschung ist die Herausforderung, unter Einbeziehung der Soziologie des Körpers, Phänomene menschlicher Ausdrucksweisen so zur Sprache zu bringen, daß dabei nicht Bisjetziges, anscheinend gut Verstandenes formuliert und formal anscheinend neu interpretiert wird, sondern daß die tatsächlichen Zusammenhänge durch angemessene Beobachtung und epikritische Reflexion erkennbar so dargestellt werden, daß bisher Unerklärliches und bereits Erklärbares die intelligente Anwendung geistiger Möglichkeiten herausfordert. Wir müssen berücksichtigen, daß wir keine körperlos Agierenden auf diesem Forschungsgebiet sind. Wir müssen (als logische Folge unserer Körperlichkeit) die Grenzen unserer Beobachtungsfähigkeit und die Grenzen der Zuverlässigkeit von Deutungen (und auch Beschreibungen) sozusagen von innen her erfassen, da wir uns selbst nicht von außen betrachten können. Die mittlerweile in den Rang einer philosophischen Binsenwahrheit erhobene Feststellung, daß es keine außerirdische Mitteilung von Beobachtungen über uns gibt (siehe Ludwig Wittgenstein, George Spencer Brown u.a.), obwohl diese Aussage auf esoterischem Gebiet auch als Ketzerei bezeichnet werden kann, erfordert auf allen denkerischen Gebieten das Eingeständnis, daß diese menschlich verständliche Situation dennoch eine begrenzte darstellt und in besonderem Maße von soziogenen Faktoren beeinflußt wird. Will die Beschäftigung des Menschen mit dem Menschlichen weder eine solipsistische noch narzißtische Variante des subjektiven Relativismus sein, muß informationstheoretisch unterschieden werden zwischen Information und Nachricht.

  • Unterschiedliche Fachbereiche sind unterschiedliche Wege gegangen, um auch das Innerste des inneren Empfindens und Denkens eines Menschen in Wissen einzubringen. Unabhängig von den als wissenschaftlich zu bezeichnenden Methoden können wir folgende Bereiche differenzieren: Auf dem Gebiet des genuinen Fühlens erscheinen in der Regel Verbalisierungen schlichtweg als überflüssig. Auf dem Gebiet des Ausforschens ist die Arbeit mit dem Forschungsgegenstand eher mit der polizeilichen Ermittlungsarbeit zu vergleichen, die auch das Gebiet der klinischen Psychologie kennzeichnet.
  • Diese treffende Kennzeichnung von Eva Jaeggi, Robert Rohner und Peter M. Wiedemann in "Die Wurzeln psychologischer Methodik" (in "Denkanstösse '93", 1992, S.2630) wird von ihnen auch auf die Beichte, das Tagebuch und Biographien ausgedehnt. Nach ihrer Beurteilung beherrscht die Psychoanalyse diese Kunst am besten, da die "Psychoanalytiker" ein "Hören" mit dem >>dritten Ohr<< (S.28) entwickelt haben, um auch aus zersplitterten Hinweisen Erkenntnisse zu gewinnen die sie m.E. ihrer Theorie anpassen. Geständnisse sind uns schon von Kindesbeinen an bekannt, allerdings auch ihre Wirkung und damit die Systematik ihrer Einsetzbarkeit.
  • Der Sachverhalt, daß angemessene Kommunikation Informationen von den sie transportierenden Nachrichten trennt, will sie Wissen erweitern helfen, wird wissenssoziologisch betrachtet werden müssen unter dem Aspekt, daß Erkenntnisse wegen kulturell bedingter Wissensbegrenzung tabuisiert werden können. Dadurch kann gesellschaftlicher Konsens in den Rang von Wahrheit erhoben werden. Die daraus resultierenden Einschränkungen tatsächlich autonomer Bewegungen begrenzen die Beobachtungsmöglichkeiten menschlichen Forschens noch zusätzlich. Die in die wissenschaftliche Forschung eingeführte Forderung nach Beobachtung des Beobachters gaukelt Präzision vor, wo doch nur wieder der Mythos von der normativen Kraft des Bisjetzigen gesellschaftliche Konvention und Rituale schützt. Wahrheit erklärt sich selbst oder die als solche ausgegebene ist keine. "Es ist eine empirisch undurchführbare Vorstellung, Wahrheit als Konsensus der Individuen aufzufassen" (Niklas Luhmann "Die Wissenschaft der Gesellschaft", 1990, S.619).

Angesichts der physiologischen Begrenzung menschlicher Wahrnehmungsfähigkeit kann Wissenschaft als Teilhabe am offenen System der biologisch verstandenen Vitalität nur dann Wissen schaffen, wenn sie die gesellschaftliche und damit konservative Leistungserwartung nicht erfüllt. Der hierdurch erkennbare Gegensatz zwischen gesellschaftlich unterstütztem Soll (z.B. das Überleben der Menschheit zu sichern) und dem logischem Verbot, die Sollerfüllung zu intendieren, wird aufgehoben durch die gesellschaftskritische Position, daß nur die Hingabe an den Augenblick und das situative Engagement der Sache nach angemessen mit unseren menschlichen Möglichkeiten umgeht und unbefangen bleibt gegenüber wirklich neuen Einsichten. Wissenschaft verdient diesen Namen nur, wenn sie sich von ihrer sozialen Genese freimacht und dennoch in menschlicher Gemeinschaft ihre Arbeit tut. Eine Beobachtung höheren Ortes beinhaltet stets mythologische Elemente und vergißt, daß es eine extrapersonale Beobachtung der außerirdischen Art, wie gesagt, nicht geben kann.

  • (Siehe GUM, 7.Kapitel: "Zur Wissenssoziologie" S.58-76)
  • Die Erfüllung dieser Forderung an wissenschaftliches Arbeiten ist mit der gesellschaftlichen Isolationsdrohung belegt (siehe Beschaffung der materiellen Voraussetzungen von Forschung). Privatgelehrte gelten als absonderlich oder gar als gefährlich. Wissenschaftliche Arbeit muß sich im Sinne des Bisjetzigen rechtfertigen, will sie gesellschaftliche Anerkennung genießen. Da sich Gesellschaft als formalisierte Gruppierung und nicht als inhaltliche Gemeinschaft organisiert, verbaut sie Sinnfragen, indem sie sich mit Bedeutung zufrieden gibt. Die Überdeckung von Sinn durch Bedeutung raubt uns die Möglichkeit, Wahrheit über das Medium der Sensualität (Sinn plus Sinnlichkeit) zu erfassen. Wahre und unwahre Sätze werden der Gefahr ausgesetzt, über ihre Formalisierung der Falsifikation entzogen zu werden. Nur das, was gegenwärtig Bedeutung hat, wird als sinnvoll und als Förderung wahrer Erkenntnis anerkannt. Das wird durch die Ausdifferenzierung der Wissenschaft in Teilgebiete (Expertentum) gefördert. Interdisziplinäre Forschung wird immer noch als außergewöhnlich und nicht wissenschaftlicher Logik folgend empfunden. Wissenschaftliches Arbeiten wird genannt, was gesellschaftsintern (vergleichbar der Endogamie) die Reproduktion des Bisjetzigen (und sei es durch andere Formen) "befruchtet". Gesellschaft bleibt unter sich, was sich in der Begegnung von unterschiedlichen Gesellschaften darin zeigt, daß die eigene Gesellschaft nicht gefährdende Abarten kulturellen Verhaltens zwar abwertet, aber bis zur Grenze der Gefährdung toleriert. Diese Toleranz zeigt sich auch gesellschaftsintern gegenüber wissenschaftlichen Fachsprachen und religiös orientierten Verlautbarungen. Intrafamiliär erzwungene Zurückhaltung in Nachfragen gegenüber dem Kauderwelsch Erwachsener wird nach wie vor durch Gewährung von Versorgung belohnt. Deshalb stellen sich häufig genug auch politische Entscheidungsgremien nicht Sinnfragen z.B. gegenüber technischen Errungenschaften.
  • (Siehe das Thema "Weltanschauungen" und die soziologischen Erörterungen in GuM)
  • Nur eine extreme Notsituation scheint Individuen zu erlauben, sich selbst persönliche Fragen in bezug auf ihren existentiellen Zusammenhang zu stellen. Wie in der Familie wird auch in der Gesellschaft formal für den Erhalt der existentiellen Bedürfnisse gesorgt. Die Konventionen verbieten den allgemein wissenschaftlichen Zweifel gegenüber den geltenden Ansichten. In gesellschaftlich erlaubten Nischen darf zwar Kritik geübt werden, sie darf jedoch nicht in geänderte Verhaltensweisen bezüglich gesellschaftlicher Normen umgesetzt werden. Die soziogene Einwirkung auf unsere Körperlichkeit (siehe die soziologischen Zusammenhänge in GuM) bzw. auf den sprachlichen und damit tatsächlichen Umgang mit ihr wird analog der familiären Grundausbildung als gegeben akzeptiert. Als Not oder gar als Krise kann dann nur erfahren werden, was Ursprüngliches unkontrolliert zur Geltung bringt.

 Siehe das Beispiel "Analyse":

  • In der Regel rufen jene Impulse, die beim Erwachsenen auf das Ursprüngliche zielen, die perinatale Sorge hervor, die mit der Todesidee verknüpft ist. Die aktivierten Frontalhirnzellen repräsentieren das Alter ihrer Füllung: in dieser Sorge tun wir so, als seien wir noch Babys, als müßten wir noch immer versorgt werden. Diese Haltung ist ein Effekt und effiziert nun ihrerseits die Tendenz, eine mögliche Einpassungsform zu finden, damit die Versorgung wieder gewährleistet ist, oder anders ausgedrückt: damit die aktivierten Zellen den Alarm ausschalten.
  • Die elterlichen unbewußten und bewußten Vorausurteile (Wünsche, Erwartungen usw.) treffen nach der Geburt so auf das Kind, daß dessen eigene Anteile in der Verwundungserfahrung "verurteilt" scheinen (der Umgang der Eltern wird eben auch von Vorausurteilen bestimmt). Das Kind gelangt so zu seinen eigenen Einstellungen als Folge der Verwundungserfahrungen und ist sich in seinem unterbewußten System selbst Vater oder Mutter, so, wie es diese wahrgenommen hat.
  • Ein Erleben des Entfremdungsprozesses, der seinen Ausgang in der Verwundungserfahrung genommen hat, ist der Anlaß zur Analyse; er kann jedoch nur erlebt werden, wenn er sich unterscheiden läßt von etwas anderem, von dem, was hinter der Verwundungs-Erfahrung durch das unterbewußte System versteckt gehalten wird. Folglich ist der Anlaß einer Analyse das Erlebthaben von Ursprünglichem, das fremd erscheint!
  • Gesellschaftlich äußert sich eine solche Notsituation mit Hilfe der hysterischen Aktionsweise: Das gesellschaftliche System wehrt sich gegen exogene Impulse, die es auflösen könnten, indem es sie analog dem physiologischen Immunsystem zu integrieren oder zu vertreiben versucht. Die übliche medizinische Sprache, die die Arbeitsweise des Immunsystems zum Ausdruck bringen soll, verwendet militärisches Vokabular (z.B. Abwehrschlacht, Vernichtung) und enttarnt damit den gesellschaftlichen Umgang mit Fremdem. Sie beschreibt nicht die tatsächliche Arbeit des sogenannten Immunsystems, das im gesellschaftlichen Rahmen nur einigen wenigen Auserwählten zugute kommt (siehe Immunität). Auf diesem nicht gerade unwichtigen Teilgebiet der Medizin offenbart sich gesellschaftliche Realität, tarnt sich jedoch als wissenschaftliche Beschreibung.
  • In Noosomatik Bd.II wird die zytologische Realität mit Hilfe eines physiologieadäquaten Vokabulars dargestellt. Hier möge das Beispiel Schnupfen als Hinweis reichen: In gleichen Situationen bekommen die einen einen Schnupfen, die anderen nicht. Ist letzteres ein Symptom in einer Abwehrschlacht oder ein Hinweis auf etwas ganz anderes, womöglich auf die ganz und gar unwissenschaftliche, volkstümliche Wirklichkeit, die Nase einfach voll zu haben, von was auch immer? Der Begriff "verschnupft sein" beschreibt einen auch nichtmedizinisch relevanten Sachverhalt. Wer auf die Viren schaut, als seien sie potentielle Feinde, übersieht leicht, daß ihr Eiweißmantel von unserer Physiologie bearbeitet werden kann, ohne daß eine Infektion entsteht.
  • Neues muß anscheinend immer Anschluß an Altes haben, soll es als gesellschaftlich relevant akzeptiert werden. Wir können auch sagen: Neues muß kompatibel gegenüber dem bisjetzigen System sein, d.h. der systeminterne Konnex führt zur gesellschaftlich akzeptierten "connection". Solche Beziehungen unterliegen der Beobachtung höheren Ortes, wie es besonders deutlich wird bei der Ehe-Schließung (bzw. beim Ehe-Stand), die nicht ohne Erlaubnis stattfinden und schon gar nicht ohne Gerichtsurteil "im Namen des Volkes" aufgehoben werden darf. Die solcherart tabuisierten Zugänge in neue Lebensräume werden systemintern geduldet, da sie die allgemeine Alltagswirklichkeit nicht in Frage stellen.
  • (Siehe das Thema "Alltagswirklichkeit" in GuM)
  • Die Toleranz gegenüber den formalen Auswirkungen von Expertentum äußert sich auch in Toleranz gegenüber gesellschaftlich akzeptierten Argumentationen, ohne daß deren Inhalt logisch überprüft wird*. Argumentationen erhalten ihre Bedeutung über das vorausgesetzte Vorwissen, das wie selbstverständlich bereits in der Familie Erwachsenen zugestanden wird und die Frage verbietet "Warum ist die Banane krumm". Die Verläßlichkeit von Vorwissen wird durch Gratifikationen (intrafamiliär: Sicherung der Versorgungssituation) als bewiesen erachtet. Daraus folgt unmittelbar, daß nicht nur die Denkarbeit der Eltern nur für die Eltern da ist, sondern auch, daß wissenschaftliche Arbeit in ihrem tatsächlichen Inhalt nur für die Wissenschaftler selbst da ist, solange die Versorgungslage gewährleistet ist. Das trifft auch auf andere vom Flair der Wissenschaftlichkeit lebenden Fachbereiche zu: Rechtsberatungen z.B. dienen dem Gesetz, ohne daß die Rechtmäßigkeit von Gesetzen hinterfragt werden darf (siehe die sog. Unrechtsgesetze im "Dritten Reich"). Religiöse Reden dienen dem Erhalt ihrer Theologie. Medizinische Therapien dienen der Rechtfertigung begrenzten Wissens der Medizin und der Verläßlichkeit der Allerweltserfahrung, die sich als wissenschaftlich abgesicherte Empirie darstellt. Nun will nicht geleugnet werden, daß Rechtsberatung und medizinische Therapie tatsächlich auch aus persönlicher Not befreien helfen können. Nach Monod ist dies jedoch eher "Zufall als Notwendigkeit".

Wissenschaft als gesellschaftliche Enklave hat ihre Existenzberechtigung, solange sie inhaltlich nur mit sich selbst kommuniziert und nach außen den soziogenen Erfordernissen nicht widerspricht. Deshalb begründet sie in aller Regel ihre sprachlichen Eigenarten mit Hilfe der Begriffe "Komplexität" und "Genauigkeit". Die Übersetzung in die Alltagssprache und damit in die Anwendbarkeit der Ergebnisse in der Alltagswirklichkeit geschieht durch spezielles Personal, das sich in aller Regel als Tugendwächter profiliert, um, wie gesagt wird, gefährlichen Mißbrauch zu verhindern (z.B. nach dem Motto: Wenn alle Atombomben bauen könnten...), was sich wie schon familiär einer ausreichenden Beliebtheit erfreut, z.B. Abwehrschlacht (siehe das Thema "Sprache" in WuM und in Noosomatik Bd.V).