Orientierung

Die Dimension einer noosomatischen Orientierung dessen, was Psychiatrie genannt wird, erweist ihre Offenheit in der Reflexion von causal - situativ - final unter Einbeziehung der Sinnfrage, eine Viererdimension also, die ich Tetrade nenne. Offenheit ist selbstverständliches Kennzeichen lebendiger Systeme (Maturana et al.). Solange wir uns dessen bewußt bleiben, daß die anthropologischen, also die menschlich möglichen Fragestellungen auch deren Prüfbarkeit ermöglichen müssen, verstehen wir, daß nicht die Erklärung von Phänomenen als l’art pour l’art das Zentrum unserer rationalen Erwägungen bildet, sondern das für Menschen Ergreifbare, intellektuell Nachvollziehbare. Die Forderung nach Widerspruchsfreiheit in der Theorie ist nicht nur ein wissenschaftstheoretisches Interesse. Die auf Umgang mit Menschen zielende Arbeitsstruktur muß uns selbst als Menschen miteinbeziehen und deshalb auch das bloß Machbare vom Faßbaren unterscheiden, also das, was ”nur” von Bedeutung ist, von dem, was geistig als sinnvoll erkennbar und organisch als sinnlich wahrnehmbar und durch beide Dimensionen persönlich anwendbar ist. Bevor wir uns einigen ausgewählten Begriffen zur Einführung zuwenden, möchte ich als Beleg für meinen Ansatz Wolfgang Blankenburg zitieren:

Es ”sollen thesenartig ... einige Aufgaben für die ... Forschung skizziert werden... . Die Funktion einer anthropologischen Orientierung der Psychiatrie besteht - sowohl in der Forschung als auch in der Praxis - nicht nur in der Reflexion auf das Woher und Wohin. Sie ist auch nicht nur in der behutsamen Zügelung des uns heute Möglichen zu sehen, auf daß wir nicht zu sehr in den Sog des Machbaren geraten. Das wäre zu wenig. Es gilt, darüber hinaus neue Wege zu bahnen. Das bedeutet für die Psychiatrie:

1. Wir brauchen eine >>pathologie de la liberté<< (Ey2 1968, 1975), die nicht ausschließlich in der Alternative von somatologischen, psychologischen und soziologischen Kategorien denkt, sondern darüber hinaus durch die Vielfalt erforschbarer Bedingungszusammenhänge hindurch stets auch das Unbedingte im menschlichen Dasein im Auge behält.

2. Es gilt eine biographische Forschung voranzutreiben, die den Stellenwert von Krankheiten bzw. psychischen Auffälligkeiten innerhalb der Lebensgeschichte untersucht, ohne sie ausschließlich auf genetische, somatische, psychosoziale Faktoren zu reduzieren - d.h. eine Forschung, die die Dimension der Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins nicht außer acht läßt.

3. Notwendig ist eine - das Wesen des Menschen im Auge behaltende - Psychopharmakologie, die ständig auf der Suche bleibt nach Substanzen, die in ihrer Wirkung weniger determinieren und abschirmen als vielmehr Entfaltungsmöglichkeiten stimulieren bzw. freisetzen.

4. Wesentlich sind ferner Entwicklung, Ausbau und Differenzierung neuer Formen kreativer Therapie.

5. Nicht zuletzt ist es eine Aufgabe der phänomenologisch-anthropologischen Forschung, die wechselseitige Bezogenheit von situativen Konstellationen und selbst- und weltkonstituierenden Prozessen näher zu analysieren, um daraus neue Konzepte für die Rehabilitation psychisch Kranker zu entwickeln” (W. Blankenburg in ”Psychiatrie 1”, KPd20Jh, 1983, Kapitel ”Anthropologisch orientierte Psychiatrie”, S.180).